Die Medizin lässt nichts unversucht, um Menschen zu helfen. Schliesslich gilt: Viel hilft viel. Oder doch nicht? Ein Blick auf wissenschaftliche Auswertungen zeigt, dass nicht alles, was
möglich ist, auch wirklich nützlich ist. Warum es manchmal besser ist, "nichts" zu tun.
Evidenz-basierte Medizin
In den 90-er Jahren lebte die Forderung auf, Medizin nach wissenschaftlichen Kriterien, sprich Evidenz, einzusetzen. Nur das soll zum Einsatz kommen, dessen Wirksamkeit auch in seriösen Studien erwiesen wurde. Umgekehrt sollte man auf Behandlungen verzichten, deren Wirksamkeit nicht belegt ist oder die den Patienten mehr Risiken als Nutzen bringen.
Dadurch soll das Vorgehen in der Medizin auch strukturierter und nachvollziehbar werden. Denn je stärker die Behandlung nach eigenem Gutdünken oder persönlicher Erfahrung durchgeführt wird, desto grösser ist das Wirrwarr unter den Fachleuten. Dies wiederum führt dann zu Unsicherheit bei den Patienten.
Ausserdem sollten Patienten bei der Entscheidung miteinbezogen werden, wenn sie dies wünschen. Dadurch werden sie zufriedener mit der Therapie und halten sich eher an die Verordnungen.
Weniger ist manchmal mehr
Wissenschafltiche Untersuchungen zeigen unerwartete Ergebnisse zu medizinischen Eingriffen. Zum Beispiel ist eine Physiotherapie bei Rückenproblemen genau so wirksam wie eine teure und aufwändige Operation, angesichts der Kosten und möglicher Komplikation ist sie eher vorzuziehen.
Es konnte auch gezeigt werden, dass Röntgen bei der Diagnose von Rückenschmerzen keine Hilfe ist. Denn Patienten können trotz Auffälligkeiten beschwerdefrei sein, während bei Personen mit starken Schmerzen oft kein verändertes Röntgenbild zu sehen ist.
Solche Beispiele gibt es viele. Aus diesem Grund wird geschätzt, dass etwa 20% der Gesundheits-kosten durch Behandlungen verursacht werden, die keinen echten Zusatznutzen haben. Immer mehr Fachleute engagieren sich für eine schlanke, effiziente Medizin. Sie werben für "Smarter Medicine" - also eine intelligentere Medizin.
Auch bei Medikamenten gibt es Aufklärungsbedarf
Es gibt auch für die unglückliche Verwendung von Medikmenten zahlreiche Beispiele. So wird zum Beispiel geschätzt, dass etwa die Hälfte der Antibiotika, die bei Halsschmerzen verordnet werden, überflüssig sind. Zuwarten und Linderung der Symptome reicht in den meisten Fällen bereits aus.
Die andauernde von rezeptpflichtigen Schlafmitteln (z.B. Temesta, Stilnox, etc.) ist für die Patienten nachteilig. Nicht nur lässt die Wirkung mit steigendem Alter nach, es können auch Abhängigkeit entstehen, das Risiko für Stürze und geistige Beeinträchtigung. Beratungen mit Verhaltensmassnahmen sind praktisch ebenso wirksam, haben aber keine Nebenwirkungen.
Auch bei Patienten, die eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen müssen, stellt sich immer wieder die Frage, ob wirklich jedes einzelne Mittel notwendig ist. Gewisse Präparate werden fast standardmässig verordnet und dann über Jahre beibehalten, obschon am Schluss nicht mehr klar ist, weshalb dieses Medikament überhaupt verordnet ist.
Bewusster Verzicht - ein Risiko für Patienten?
Der Gedanke, dass man bewusst auf eine Massnahme verzichtet, die doch möglicherweise helfen könnte, wirkt auf manchen erschreckend. "Man kann doch nicht nichts tun!", heisst es häufig.
Erstens ist es wichtig, die Alternativen zu kennen. Wie man in den Beispielen sieht, sind einfachere Methoden oft ähnlich wirksam und haben bedeutend weniger Risiken. Dazu gehören Lebensstilfaktoren wie Ernährung, Bewegung, Schlafgewohnheiten oder Rauchstopp.
Zweitens ist der Verzicht mit etwas verbunden, das man am besten als aktives Abwarten bezeichnen kann. Wenn man zum Beispiel beim Auftreten einer Infektion etwa drei Tage zuwartet und vorerst nur die Symptome behandelt, so kristallisiert sich im Verlauf ziemlich klar heraus, ob Antibiotika nötig sind oder nicht. Eine Massnahme nicht durchzuführen, ist als nicht in Stein gemeisselt, sondern unterliegt einer regelmässigen Neubeurteilung.
Drittens ist immer eine individuelle Betreuung möglich. Wenn die üblichen Therapieversuche nicht geholfen haben und es noch andere Möglichkeiten gibt, die aber in der Wirkung nicht so gut belegt sind, kann ein vorläufiger Behandlungsversuch besprochen werden. Dies erfordert gute Vorbereitung, eine sorgfältige Beurteilung und die aufmerksame Beobachtung, ob sich durch die Therapie wirklich etwas verändert.
Somit ist es für Patienten eher ein Gewinn an Lebensqualität, wenn nicht jedes erdenkliche Mittel ergriffen wird. Das regelmässige Gespräch verhindert, dass wirklich ein notwendige Therapie vorenthalten wird.
Heilmittel bewusst und treffsicher einsetzen
Der Apotheker als Experte für das Heilmittel kann sowohl Patienten als auch Ärzte dabei unterstützen, die Arzneitherapie sicher und dem aktuellen Wissensstand entsprechend auszugestalten.
Grundsätzlich können Patienten von der Apotheke eine Zweitmeinung einholen, ob die verschriebene Therapie sinnvoll und nutzbringend ist. Bei komplexen Therapien ist auch eine Medikationsanalyse möglich, in der der Apotheker Empfehlungen abgibt, welche anschliessend vom Arzt begutachtet und umgesetzt werden können.
Es gibt auch die Möglichkeit, dass der Apotheker den Arzt direkt kontaktiert. Dies hängt jedoch stark von der Bereitschaft des Arztes ab, auf Empfehlungen des Apothekers einzugehen. Ein Erfolgsbeispiel sind die Qualitätszirkel Arzt-Apotheker, welche in der welschen Schweiz sehr aktiv sind. Schwierig wird es hingegen, wenn der Arzt alle Medikamente selbst abgibt, da die Therapie ganz ohne Expertise des Apothekers abläuft.
Patienten zum bewussten Umgang befähigen
Früher war es die Norm, dass der Arzt die Kontrolle über Diagnose und Therapie hat und der Patient dem Folge zu leisten hatte. Dies versetzt Patienten jedoch in eine sehr passive Rolle, in der sie der Situation ausgeliefert sind und das Gefühl haben, selbst nichts tun zu können.
Es ist jedoch von immer grösserer Bedeutung, dass Patienten merken, wie viel sie selbst zu ihrer Gesundheit beitragen können. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz hilft, im Gesundheitswesen zurechtzukommen und mit therapeutischen Anweisungen und Ratschlägen umzugehen.
Es ist uns daher auch ein Anliegen, die Dinge so verständlich wie möglich zu erklären, Alternativen aufzuzeigen und Gespräche in der Therapie anzubieten.
Autor:
Florian Sarkar, eidg. dipl. Apotheker
Quellen:
BMJ. 1995 Apr 29; 310(6987): 1085–1086.
Clin Infect Dis. (2012) 55 (5): 651-662.
NZZ Gastkommentar: Die teure Behandlung ist selten die beste 9.7.2014
Bundesratsbericht Gesundheit 2020, S. 5