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So erkennen Sie Gesundheits-Hypes

Als "Hypes" bezeichnet man übertriebene Trends, die kurz darauf wieder abflauen oder komplett in Vergessenheit geraten. Im Gesundheitsbereich gibt es sehr viele davon - nicht zuletzt, um bestimmte Produkte an möglichst viele Personen verkaufen zu können. 

Immer die gleiche Leier

Hypes laufen nach dem gleichen Schema ab. Die Technologie-Beraterin Jackie Fenn fasste dies in einem Zyklus zusammen, den man, nach dem Namen ihrer Firma, den Gartner-Zyklus nennt. 

1. Auslöser

Als Auslöser von Hypes gibt es zahlreiche Möglichkeiten. Häufig spielen Fernseh-Reportagen oder andere Medienberichte eine Rolle. Ebenfalls viel Aufmerksamkeit gibt es, wenn Prominente sich zu einem Thema äussern bzw. auf eine medizinische Methode schwören. 

 

Beim Auslöser geht es darum, dass eine Methode oder eine Mittel (Medikament, Nahrungsergänzung) die ultimative Heilung bringen könnte. Die Berichterstattung ist euphorisch und lässt keinerlei Zweifel aufkommen.

2. Gipfel der überzogenen Erwartung

Menschen interessieren sich für Geschichten. Im Zeitalter sozialer Medien kann eine Geschichte blitzschnell über den ganzen Globus verbreitet werden. Die meisten teilen die geäusserte Euphorie und ziehen das Erzählte selten in Zweifel.

 

Die Folge ist, dass vollkommen übertriebene Erwartungen an das Produkt entstehen, zum Beispiel die Erhaltung der Jugend oder die Heilung einer schweren Krankheit. In dieser Phase ist es am leichtesten, Produkte in grossen Mengen zu verkaufen. Jeder möchte es probieren, ein Versuch kann ja nicht schaden. Wer Bedenken äussert, wird in dieser Phase als "Diener der Pharmalobby" oder ähnliches abgestempelt.

3. Tal der Enttäuschung

Irgendwann wendet sich auch die wissenschaftliche Forschung dem Thema zu. Dann wird mit grösseren Personengruppen getestet und das Thema über längere Zeit verfolgt. Die sensationellen Erfolge, von denen anfangs berichtet wurde, bestätigen sich nicht. 

 

Das Publikum fühlt sich betrogen und wendet sich von dem Trend ab. Der Markt für entsprechende Produkte bricht zusammen. 

4. Pfad der Erleuchtung

Nun schlägt die Stunde der ernsthaften Forschung. Nachdem Schaulustige und Scharlatane das Feld verlassen haben, machen sich Wissenschaftler an die Arbeit. Was könnte dran sein? Was sind die Gründe, dass es in einem Fall wirkt oder nicht? 

 

Diese Bemühungen dauern oft Jahre. Nicht immer kann ein Nutzen gefunden werden, in dem Fall wird der ursprüngliche Trend definitiv als Schwindel entlarvt und beiseite gelegt. 

5. Plateau der Produktivitität

Wenn ein Nutzen bestätigt wird und auch geklärt ist, unter welchen Umständen dieser sich dieser Nutzen entfaltet, wird es möglich, das Mittel sinnvoll und koordiniert einzusetzen. An Stelle von wundersamen Heilsversprechen wird ruhig und sorgfältig abgewogen, für wen es geeignet ist und für wen nicht. Das grosse Geschäft winkt hier in der Regel nicht - aber man kann Menschen helfen, bei denen man es gezielt einsetzt.

Beispiel Vitamin B12-Salbe

Ein gutes Beispiel ist die Geschichte der Vitamin B12-Salbe. 2009 sorgte der Dokumentarfilm "Heilung unerwünscht" auf ARD für Furore. Eine an Neurodermitis erkrankte Frau konnte ihre Beschwerden mit einer Salbe aus Vitamin B12, Avocadoöl und weiteren Bestandteilen heilen. Dieser phänomenale Erfolg galt als Entdeckung eines neuen Heilmittels gegen Neurodermitis und Schuppenflechte (Psoriasis).

 

Dass diese Zubereitung aber nicht als Fertigarzneimittel produziert wird, fand der Reporter merkwürdig. Und sehr schnell war die Begründung da: Die Pharmaindustrie kann mit dem Produkt kein Geld verdienen, da Vitamin B12 nicht patentiert ist und fürchtet Verluste bei den gegenwärtig vertriebenen Arzneimitteln.

 

In den Folgemonaten bestürmten tausende von Patienten Apotheken, um ein solches Produkt zu kaufen. Doch in den meisten Fällen wurde die Hoffnung enttäuscht. Vitamin B12 ist kein Wundermittel. Der Wirkungsmechanismus ist ungeklärt und es gibt nur sehr schwache Belege für die Wirksamkeit. Heute wird dieses Produkt als Therapieversuch im Einzelfall noch eingesetzt, doch der Zauber ist verflogen. Andere Themen, die in letzter Zeit übertrieben hochgejubelt wurden, waren Methadon gegen Krebs oder Baclofen bei Alkoholsucht. 

 

Es gibt aber auch in der Medizin solche Beispiele. Das Medikament Vioxx wurde als Revolution in der Behandlung von Rheumaschmerzen gefeiert - doch 10 Jahre nach der Markteinführung wurde es vom Markt zurückgezogen, weil es negative Effekte auf das Herz gab. Danach überdachte man den generellen Gebrauch von Entzündungshemmern und nähert sich heute einem Einsatz, welcher den Nutzen und die Risiken sorgfältig abwägt.

Medizinischer Fortschritt kommt selten über Nacht

Hypes im Gesundheitsbereich leben von der Hoffnung der Menschen, auf einfachem Weg eine schnelle Lösung für ihre gesundheitlichen Probleme. Auch die Faszination für Geschichten bewirkt das vorschnelle Akzeptieren angeblicher Tatsachen. Gleichzeitig wird die Gutgläubigkeit der Menschen gezielt ausgenutzt, Produkte aus dem Bereich der Nahrungsergänzung und Esoterik zu vermarkten. Ausserdem kursieren Hypes häufig zusammen mit Verschwörungstheorien, dass einfache Heilmittel von höheren Mächten verhindert werden. 

 

Tatsache ist aber, dass Fortschritt in der Medizin Knochenarbeit ist. Von der ersten Idee bis zur Umsetzung in der Praxis vergehen 20-30 Jahren. Die Forschung verläuft in kleinen mühsamen Schritten und meist erst nach einigen Jahrzehnten überhaupt erst von der Öffentlichkeit wahrgenommen. 

 

Patienten sind daher gut beraten, bei Sensationsgeschichten kritisch zu sein. Initiativen wie "Zuerst denken, dann klicken" analysieren Geschichten, die in den sozialen Medien kursieren. Auch bei Berichten in TV und Zeitungen sollte man eine gewisse Distanz bewahren und zuerst noch andere Quellen befragen, bevor man sich eine Meinung bildet. 

Autor:

Florian Sarkar, eidg. dipl. Apotheker

 

Quellen:

 Die "Rosa Creme" und die Evidenz. Deutsche Apothekerzeitung, 158. Jahrgang Nr. 2, 11.01.2018, S. 132-134

 

The Lancet 2007; 370:1915-1922